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Experten-Interview

„Wir bekommen ein neues Betriebssystem für die Wirtschaft“

Die Gesellschaft verlangt mehr Nachhaltigkeit – und die Politik setzt auf allen Ebenen die Rahmenbedingungen dafür. Für Unternehmen bedeutet das: Es herrscht großer Handlungsdruck, um die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft mitzugestalten. Welche Rolle kann hier die Kreislaufwirtschaft spielen? Und wie verändert das neue Nutzungsverhalten der Kund:innen den Markt?

Dazu spricht Matthias Steybe, Group Sustainability Officer bei CHG-MERIDIAN, mit Dr. Rüdiger Kühr, Experte für Circular Economy beim United Nations Institute for Training and Research. 

 

Kann nach Gesundheit und Fitness Nachhaltigkeit der neue „state of mind“ werden?

Steybe: Nicht direkt, aber ich erlebe, dass sich bei CHG-MERIDIAN Mitarbeiter:innen erkundigen, ob sie ihre IT-Geräte länger nutzen oder Gebrauchtgeräte bestellen dürfen. Das Gleiche beobachten wir bei unseren Kund:innen. Es geht um ein Verantwortungsbewusstsein, wie Technologie genutzt wird.  

Kühr: Umweltthemen sind auf der Agenda per se weit nach oben gerückt. In der politischen wie in der privaten Arena. Es gibt eine Sensibilität für unsere Konsumgesellschaft.  

Steybe: Der Zeitgeist prägt unser Denken. Die Autoindustrie wurde schon früher kritisch hinterfragt, was ökologisch vertretbar ist – und hat reagiert. Das setzt sich in der IT-Branche nun fort.  

Kühr: Die IT-Industrie läuft ein bisschen hinterher, und das, obwohl sie in der öffentlichen Wahrnehmung als absolut innovativ gilt. Dass man dort über Klimafolgen diskutiert und Zero-emission-Kampagnen startet, das kommt jetzt erst. 

Steybe: In der Tat kommt das in der IT-Branche nun zeitversetzt an. Die Rohstoffknappheit und die damit verbundenen Kosten führen dazu, dass die rund 880.000 gebrauchten Geräte, die wir 2020 für einen zweiten Lebenszyklus aufbereiten, zu höheren Preisen gehandelt werden. Die Nachfrage steigt rasant, daraus entstehen neue Geschäftsmodelle im Sinne der Circular Economy.  

Der promovierte Politologe und Ökonom Dr. Rüdiger Kühr gehört weltweit zu den renommiertesten Experten für Kreislaufwirtschaft. Seit 1999 lehrt und forscht er an der United Nations University. Zur Zeit leitet er das Programm für nachhaltige Kreisläufe beim United Nations Institute for Training and Research (UNITAR). 

Warum kann die IT-Industrie dieses Paradoxon zwischen Innovationskraft und verpasster Nachhaltigkeit zumindest bisher noch nicht lösen?

Kühr: Die IT-Branche denkt immer noch linear. Es fehlt an interner Kommunikation, um das Ende eines Nutzungszyklus schon beim Design mitzudenken und Kreisläufe zu schließen. Die IT-Industrie ist gar nicht so innovativ wie ihr Ruf. 

Steybe: Wir merken bei unseren Kund:innen, dass sich die Nutzung zu alternativen Modellen hin verändert, für die wir als Tech-Management-Pionier seit mehr als 40 Jahren stehen. Die Hardware-Ausstattung nicht mehr zu kaufen, sondern nach Bedarf zu nutzen, wird immer populärer. Durch die Sharing Economy entsteht ein neuer Markt-Mechanismus. Gerade was die Langlebigkeit der Geräte betrifft, wird da noch Steigerungspotenzial drin sein, wenn es darum geht, eine zweite oder dritte Nutzungsphase zu managen. 

Matthias Steybe ist seit Mitte 2020 Group Sustainability Officer bei CHG-MERIDIAN. In seiner Rolle ist er zusammen mit einem bereichsübergreifenden Team dafür verantwortlich, die Nachhaltigkeits-Strategie der Unternehmensgruppe mitzugestalten, erforderliche Maßnahmen abzuleiten und diese international umzusetzen.  

Ist Kreislaufwirtschaft also eine Form der Disruption?

Kühr: Man spricht ja davon, dass man damit die nächste industrielle Revolution beginnen will. Und eine Revolution ist auch erforderlich.   

Steybe: Das stimmt uns als Nachhaltigkeitsmanager:innen in Unternehmen auch nachdenklich. Firmen müssen sich ihre „license to operate“ gegenüber Aktionär:innen und weiteren Stakeholdern quasi verdienen. Dabei braucht es unmittelbare Handlungserfolge der Unternehmen, Absichtserklärungen und Gesetzesvorgaben reichen nicht mehr aus. Es gibt einen schönen Satz: „If you want to fix the climate you have to fix the economy first.” 

„Die IT-Industrie ist weniger innovativ als ihr Ruf. Sie denkt nämlich immer noch viel zu linear.“
DR. RÜDIGER KÜHR, UNITED NATIONS INSTITUTE, TRAINING & RESEARCH

Woher kommt der Impuls, um eine Balance zwischen Wirtschaft und Umwelt herzustellen?

Kühr: Maßgeblich aus der Gesellschaft. Die Politik greift nur Themen auf, die wirklich gefragt sind, aber sie bietet wenige Visionen. Das hängt auch mit den Wahlzyklen zusammen. Deshalb sollten wir keine zu großen Erwartungen an die Politik stellen. Die Wirtschaft hingegen hat die Aufgabe, längerfristig zu denken und zu planen. Da ist das Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, was man im Englischen mit dem Begriff „societal“ bezeichnet, ein ganz wichtiger Treiber. 

Steybe: Ein gutes, erfolgreiches Zusammenspiel sind indes hier die Sustainable Finance-Bemühungen der EU im Rahmen des Green Deals. Eben weil der Staat hier mehr Langfristigkeit bei Investitionen einfordert, schafft er einen positiven Effekt: Unser ESG-konformer Konsortialkredit mit der Helaba Landesbank Hessen-Thüringen belegt das.

Wie bringt man denn die Hersteller:innen dazu, ihre Produkte im Sinne der Circular Economy zu gestalten?

Steybe: Wettbewerb fördert Innovation. Denken Sie an Car2go. Da hat ein Unternehmen im Mercedes-Konzern die Entscheidung zum Kauf infrage gestellt. Das war eine Revolution. So etwas erleben wir jetzt in der IT. Natürlich kann die Politik bestimmte Prozesse beschleunigen, etwa so wie der Green Deal das Thema Sustainable Finance vorantreibt. Dennoch bin ich überzeugt, dass Innovationsimpulse aus den Unternehmen kommen sollten.  

Kühr: Allein durch neue Business-Modelle findet eine Selbstregulierung statt. Unternehmen werden nur noch Service einkaufen, nicht mehr das Gerät. Austauschbare Komponenten werden eine Konsequenz daraus sein. 

„If you want to fix the climate you have to fix the economy first. Am ehesten wird der Markt den Markt verändern.“
Matthias Steybe, Group Sustainability Officer, CHG-MERIDIAN

Also stehen wir nicht nur vor einer industriellen Revolution, sondern auch vor einem Kulturwandel?

Kühr: Richtig. Wir müssen weder auf Lebensqualität noch auf Innovationen und neueste Technologie verzichten. Es gilt, diesen Wohlstand zu erhalten und dabei neue Ansätze zu finden. 

Steybe: Wir können hier von einer digitalen Revolution sprechen. Und die bringt uns ein neues Betriebssystem für die Wirtschaft. 

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